Helena Waldmann: Verteidigerin der Freiheit
Das politische Tanztheater ist nicht tot. Er ist nicht einmal vom Aussterben bedroht - auch wenn die Orgien der Selbstbezüglichkeit, die die Bühnenkunst der 90er Jahre prägten und bis heute fortwirken, diese Befürchtung schürten. Der interventionistische Tanz deutscher Prägung, die kritisch-abstrahierende Gesellschaftsanalyse in der Nachfolge von Kurt Jooss, Hans Kresnik, Gerhard Bohner, Pina Bausch lebt derzeit in mannigfaltiger Weise auf: sarkastisch bei Jochen Roller, herausfordernd bei Constanza Macras, humorvoll bei Marguerite Donlon, feinfühlig bei Christian Spuck, rabiat bei Sasha Waltz, am kontroversesten jedoch bei Helena Waldmann. Die jüngsten Stücke der Berliner Choreografin machen Hoffnung, dass der Tanz sich auch künftig einzumischen vermag in den Weltenlauf, ohne in Agitprop auszuarten, und dass Abstraktion nicht notwendigerweise Eskapismus bedeutet. Unter dem Titel »Letters from Tentland« erforschte Waldmann gemeinsam mit einer Gruppe iranischer Frauen den Begriff der Freiheit und erfand die geniale Metapher der tanzenden Zelte, um sowohl die unendlichen Möglichkeiten als auch den begrenzten Raum unserer Freiheit zu illustrieren. Dass die Arbeit im Iran entstehen konnte, wo der Bühnentanz seit über 20 Jahren tabu ist, bewies einmal mehr die grenzüberschreitende Kraft des Ästhetischen. 43 fulminante Gastspiele in 17 Ländern absolvierte das Ensemble, bis die iranische Regierung schließlich einschritt und den Tänzerinnen nahelegte, das Tanzen in ihrem eigenen Interesse lieber sein zu lassen. Daraufhin castete Helena Waldmann sechs Exil-Iranerinnen für eine Reprise. »Return to Sender« heisst dieser neuerliche Entgrenzungsversuch, der im September Deutschlandpremiere feiert: eine Intervention auch gegen die Beschränktheit unserer aktuellen Migrationsdebatte und gegen die apokalyptische Rhetorik der Clash-of-Cultures-Propheten. »Meine Zelte sind wie Briefumschläge , und die darin enthaltenen Menschen sind Botschaften, die man sich auch einmal bemühen muss zu lesen«, sagt sie. Was wüssten wir schon über iranische Frauen? Und worin bestehe denn unsere eigene viel gepriesene Freiheit wenn nicht in der Chance, die Welten ausserhalb unserer vertrauten Welt zu entdecken? »Doch nicht im Konsumterror oder darin, dass wir im Minirock rumlaufen.« Helena Waldmanns Methode ist Aufklärung der Aufklärung, also radikale Infragestellung, auch unserer selbst. So handelte das harte Flüchtlingsstück »Crash«, das sie zusammen mit Marguerite Donlon im Frühjahr 2006 inszenierte, von all jenen tragischen Gestalten, die vergeblich gegen die befestigten Außengrenzen der europäischen Union anrennen. Waldmanns Theater erschüttert unsere Gemütsruhe und entbirgt die moralischen Widersprüche der Gegenwart. Es ist nicht geeignet, uns über die Unzulänglichkeit unserer Gattung zu trösten, aber es kritisiert uns in spektakulären Bildern und intellektuell avanciertem Stil.
Evelyn Finger, DIE ZEIT, ballet-tanz, Jahrbuch.06
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